
Seit dem Fall Gurlitt (2012) und einem Besuch der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ in der Bonner Kunsthalle (2018) verfolge ich mit großem Interesse Medienberichte über Provenienzforschung, die sich mit NS-Raubkunst befasst und versucht, die rechtmäßigen Eigentümer beziehungsweise deren Erben ausfindig zu machen. Alena Schröder greift in ihrem Debütroman genau dieses Thema auf und knüpft es an eine bewegte und bewegende Familiengeschichte. Hannah, 27-jährige Germanistik-Doktorandin aus Berlin, fällt während eines Besuchs bei ihrer Oma Evelyn ein Schreiben einer Anwaltskanzlei in Tel Aviv in die Hände, die ihre Dienste in der Restitutionssache Itzig Goldmann anbietet. Evelyn will von alldem nichts wissen. Doch Hannah versucht, mehr herauszufinden über die wertvollen Gemälde des Kunsthandels Goldmann, welche die Nazis konfiszierten, vor allem aber über ihre Familie, über der ein dunkles Geheimnis zu liegen scheint. Ob Hannah am Ende den kostbaren Vermeer findet, dem der Roman seinen Titel verdankt, wird an dieser Stelle natürlich nicht gespoilert. Was ich jedoch verraten kann: Die Suche nach ihren Wurzeln erdet die junge Frau, deren Leben bis zu jenem Anwaltsschreiben so vor sich hinplätscherte, lässt sie reifen und erwachsener werden – auch ein Gewinn.
Ein starker Roman über starke Frauen und ihre Schwächen und über ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte. Chapeau für Schröders Debüt!
Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid. dtv, 2021, 22 Euro (Hardcover).
Die Autorin:
Alena Schröder, geboren 1979, arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie hat Geschichte, Politikwissenschaft und Lateinamerikanistik in Berlin und San Diego studiert und die Henri-Nannen-Schule besucht. Nach einigen Jahren als Redakteurin in der Brigitte-Redaktion arbeitet sie heute frei, unter anderem für Brigitte und das SZ-Magazin. Sie ist Autorin mehrerer Sachbücher.
Quelle: Klappentext
Blick ins Buch – die erste Seite:
„Bevor sich ihre Großmutter weiter mit dem Sterben beschäftigen konnte, musste Hannah die Sache mit der Jalousie erledigen.
Es war ein deprimierendes Ritual zum Ende ihres wöchentlichen Besuchs im Altenheim, die immer gleiche Bestätigung der Gewissheit, in den Augen der Großmutter nicht mal die simpelsten Dinge auf Anhieb richtig machen zu können, immer einen zweiten und dritten Anlauf zu brauchen. Aber gut, sie konnte großzügig sein. Nichts leichter, als einer alten, des Lebens überdrüssigen Frau in einem Pflegeheim ein paar Momente reinen Überlegenheitsgefühls zu schenken.
Evelyn saß eingesunken in ihrem Ledersessel, der sich wie ein Schildkrötenpanzer um ihren krummen Rücken legte, beobachtete ihre Enkeltochter mit wachsender Frustration und gab mit ausgestrecktem Zeigefinger Anweisungen zur korrekten Einstellung der Jalousie.
„Weiter runter! Das ist zu weit! Und jetzt schräg stellen. Noch schräger! Herrgott, Kind!“
Hannah fummelte an der Fadenschlaufe und dem Acrylstab herum, bis die Oktobersonne, die durch die weißen Plastiklamellen schien, das Zimmer in besonders fahles Licht tauchte.“