
Es ist eine Weile her, dass mich ein Buch so sehr gefangen genommen hat, dass ich kaum aufhören konnte zu lesen. Nur die Stimme der Vernunft mahnte mich nachts nach 1 Uhr, das Licht auszumachen, um den Aufgaben des Tages halbwegs ausgeschlafen entgegenzutreten. Und jedes Mal habe ich voller Bedauern, Kya eine gute Nacht gewünscht, verbunden mit dem Versprechen, dass ich sie bei nächster Gelegenheit wieder besuchen würde. Kya ist die Hauptfigur in Delia Owens fesselndem Romandebüt „Der Gesang der Flusskrebse“, verortet im Marschland von North Carolina in den 1950er und 1960er Jahren. Kya ist sechs, als zuerst ihre Mutter und kurz darauf ihre vier älteren Geschwister die heruntergekommene Hütte, die bittere Armut und vor allem den trunksüchtigen Ehemann und Vater verlassen, der oft tagelang verschwindet und nur nach Hause kommt, um seine Familie zu misshandeln und seinen Rausch auszuschlafen. Kya bleibt in diesem Albtraum zurück. Sie ist zehn und hat eine Schule nur einmal von innen gesehen, als auch ihr Vater spurlos verschwindet. Ein Kind in der Einsamkeit der Marsch, ohne Liebe, ohne Schutz, ohne Bildung, ohne Geld, ganz auf sich allein gestellt. Niemand, der sich um das Marschmädchen kümmert. Fast niemand. Das allein ist schon Stoff genug für eine großartige Geschichte. Aber Delia Owens legt noch einen Mord und ein spannendes Gerichtsdrama oben drauf und verbindet beide Stränge auf höchst geniale Weise. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite!
Was diesen Roman darüber hinaus zu einem Besonderen macht, sind die zarten Naturbeschreibungen. Das Meer, die Marsch, das Land, Wasser, Erde, Wind, Tiere und Pflanzen – all das malt Delia Owens mit Worten und es erscheint einem so nah und so lebendig, dass man meint, es sinnlich wahrnehmen zu können. Vor allem aber führt es vor Augen, wie klein der Mensch in diesem großen Perpetuum mobile aus Werden und Vergehen ist.
Noch eines, und dann habe ich genug geschwärmt: Die Gedichte, die die Emotionen der Protagonistin ver-dichten, sind eine große Freude für jeden, der Lyrik liebt.
„Der Gesang der Flusskrebse“ gehört schon jetzt zu meinen Favoriten des Jahres 2022. Ein großes Dankeschön, an den lieben Freund, der mir dieses Buch zu Weihnachten geschenkt hat!
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, Wilhelm Heyne Verlag München, 2021, 11,99 Euro (Taschenbuch). Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Blick ins Buch – die erste Seite:
„Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt. Träge Bäche mäandern, tragen die Sonnenkugel mit sich zum Meer, und langbeinige Vögel erheben sich mit unerwarteter Anmut – als wären sie nicht fürs Fliegen geschaffen – vor dem Getöse Tausender Schneegänse.
Doch auch im Marschland schleicht sich hier und da echter Sumpf in tief liegende Moore, verborgen in feuchtkalten Wäldern. Sumpfwasser ist still und dunkel, hat das Licht mit seinem schlammigen Schlund verschluckt. Selbst nachtaktive Regenwürmer kriechen in diesem Refugium tagsüber umher. Es gibt Geräusche, natürlich, aber verglichen mit der Marsch ist der Sumpf still, denn Verwesung ist ein zelluläres Geschäft. Leben zerfällt und stinkt und wird erneut zu Humus; ein elementarer Schlamm des Todes, der Leben erzeugt.
Am Morgen des 30. Oktober 1969 lag die Leiche von Chase Andrews in dem Sumpf, der sie sich bald lautlos, gelassen einverleibt hätte. Für alle Zeiten verborgen. Ein Sumpf weiß alles über den Tod und versteht ihn nicht notwendigerweise als Tragödie, ganz sicher nicht als Sünde. Doch an diesem Morgen radelten zwei Jungs aus dem Dorf hinaus zu dem alten Feuerwachturm, und als sie auf dem dritten Treppenabsatz ankamen, entdeckten sie seine Jeansjacke.“
Über die Autorin:
Delia Owens, geboren in Georgia, lebt auf einer Ranch in Idaho. Über zwanzig Jahre erforschte die Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Als Kind verlebte Owens die Sommerurlaube mit ihren Eltern in North Carolina, wo auch ihr Romandebüt spielt.
(Quelle: Klappentext)
Ein Gedanke zu „Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse“
Ich kann nur beipflichten. Ein wunderschönes Buch, das bis zum Schluss spannend bleibt. Vielen Dank dafür!