Romane

Isabel Allende: Dieser weite Weg

Seit ich vor Jahren Isabel Allendes Roman „Das Geisterhaus“ gelesen habe, habe ich immer wieder zu Büchern dieser großartigen Erzählerin und beeindruckenden Frau gegriffen, die es so sehr versteht, Geschichte und Geschichten zu verweben. So auch in ihrem jüngsten Roman „Dieser weite Weg“. Die Geschichte beginnt im Jahr 1938, mitten im spanischen Bürgerkrieg zwischen der demokratisch gewählten Regierung der Zweiten Spanischen Republik („Republikanern“) und den rechtsgerichteten Putschisten unter General Francisco Franco („Nationalisten“). Der junge Medizinstudent Victor Dalmau flickt auf der Seite der Republikaner die Opfer von Hass, Gewalt und Zerstörung so gut es geht zusammen. Sein Bruder Guillem kämpft als republikanischer Soldat einen zunehmend aussichtlosen Kampf. Als Francos Truppen immer weiter vorrücken und Guillem fällt, drängt Victor seine Mutter Carme und seine schwangere Schwägerin Roser, nach Frankreich zu fliehen.
Die als Retirada in die Geschichte eingegangene Massenflucht von rund 500.000 Republikanern forderte unzählige Todesopfer, und wer es über die Grenze nach Frankreich schaffte, wurde in elenden Konzentrationslagern sich selbst überlassen. Tausende starben in diesen Lagern. Kaum Nahrung, keine ärztliche Versorgung, kein sauberes Wasser, kein Schutz vor Eiseskälte und Gluthitze. Man kann es sich kaum vorstellen. Oder doch? Die heutigen Flüchtlingslager in Lybien, Griechenland oder Bosnien sehen nicht wesentlich anders aus – ein humanitäres Versagen ohne gleichen, das mich zutiefst beschämt.
Roser und später auch Victor überleben das Lager Argelès-sur-Mer und finden sich durch Zufall wieder. Als sich 1939 die Gelegenheit ergibt, nach Chile zu emigrieren, greifen Victor und Roser, inzwischen Mutter eines kleinen Jungen, zu, nicht nur aus Angst vor Francos langem Arm sondern auch, weil ein neuer Krieg aufzieht. Um ihre Chancen auf ein Ticket für die Überfahrt zu vergrößern, heiraten sie. Die Ehe existiert zunächst nur auf dem Papier, aber die beiden bleiben zusammen, und aus Respekt und Zuneigung und dem gemeinsam Erlebten wächst mit der Zeit Liebe. In Chile bauen sich Victor und Roser ein neues Leben auf. Doch dann kommt es unter General Pinochet zum Militärputsch gegen den demokratisch gewählten marxistisch-sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (11.9.1973), und wieder müssen Victor und Roser alles hinter sich lassen und in Venezuela neu anfangen. Erst Jahre später kehren sie nach Chile zurück.
„Dieser weite Weg“ erzählt die Lebensgesschichten zweier Menschen, die trotz aller Rückschläge und Verluste immer weiter gehen, mit all ihrem Schmerz und all ihren Narben, aber immer auch voller Zuversicht und Vertrauen. Eine ganz wunderbare, nachdenklich machende Geschichte, die Isabel Allende in ihrer unverwechselbaren Art erzählt: versiert, voller Eleganz und stets mit einer leicht melancholischen Note.

Isabel Allende: Dieser weite Weg. Suhrkamp 2020, 12 Euro (Taschenbuch). Aus dem Spanischen von Svenja Becker.

Blick ins Buch – die erste Seite:

„Der kleine Soldat gehörte zur Schnullerkohorte, der Truppe von Kindern, die man rekrutiert hatte, als keine jungen und keine alten Männer mehr übrig waren für den Krieg. Victor Dalmau nahm ihn zusammen mit anderen Verwundeten in Empfang, die wegen der Eile wenig behutsam aus den Güterwaggons geschafft wurden und wie Baumstämme auf die Strohmatten am Bahnsteig im Nordbahnhof abgeladen wurden, um dort auf weitere Transporte zu warten, mit denen sie auf die Lazarette der Ostarmee verteilt werden konnten. Reglos lag der Junge da, mit dem ruhigen Ausdruck von einem, der die Engel gesehen hat und sich vor nichts mehr fürchtet. Wer weiß, wie viele Tage er schon durchgeschüttelt von einer Trage auf die andere, von einem Militärposten zum nächsten, von einer Ambulanz in die nächste verladen worden war, bis er schließlich mit diesem Zug Katalonien und den kalten Boden aus Stein und Beton erreichte. Im Bahnhof kümmerten sich mehrere Ärzte und Krankenschwestern um die Verwundeten, schickten die schweren Fälle sofort weiter, sortierten die anderen nach der Art ihrer Verwundung (…).“   

Die Autorin:
Einen ausführlichen Lebenslauf findest du hier.          

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert