Romane

Laetitia Colombani: Der Zopf

Es kommt selten vor, dass ich (fast) alles stehen und liegen lasse, um zu lesen. Bei Laetitia Colombanis Romandebüt „Der Zopf“ war genau das der Fall. Die Geschichten von drei starken Frauen, die Colombani wie die Strähnen eines Zopfes sacht und mit viel Fingerspitzengefühl miteinander verwebt, haben mich von der ersten Seite an fasziniert. Drei Frauen, drei Kontinente, drei Schicksale, vor allem aber dreimal der unbedingte Wille, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Da ist Smita in Badlapur, Indien. Eine Unberührbare, die mit bloßen Händen die Latrinen der Jats leert, seit sie sechs Jahre alt ist, und die sich für ihre Tochter nichts sehnlicher wünscht, als dass sie eine Schule besuchen kann und damit die Chance auf ein besseres Leben bekommt. Da ist Giulia in Palermo, Sizilien, die alles daransetzt, die wirtschaftlich ruinierte Perückenfabrik ihrer Familie zu retten. Und da ist die erfolgreiche Rechtsanwältin Sarah in Montreal, Kanada, die kurz vor dem nächsten Karrieresprung steht, als die Diagnose Krebs sie aus der Bahn und auf das zurückwirft, was wirklich im Leben zählt. Immer abwechselnd spinnt Colombani die Geschichten dieser Frauen weiter. Jedes Kapitel endet mit der spannenden Frage, wie es wohl weitergeht mit Smita, Giulia und Sarah, ob sie ihr Glück finden, wie auch immer es aussehen mag. Und genau deshalb fällt es schwer, dieses Buch aus der Hand zu legen, das „den mutigen Frauen“ gewidmet ist, die immer noch und überall auf der Welt für die Rechte der Frauen und Mädchen – für Menschenrechte – kämpfen. So gesehen gibt es noch viele alte Zöpfe, die es abzuschneiden gilt.

Laetitia Colombani: Der Zopf, Fischer Taschenbuch, 2019, 11 Euro.

Blick ins Buch – die erste Seite:

„Smita
Badlapur, Uttar Pradesh, Indien

Smita erwacht mit einem seltsamen Gefühl, einer sanften Ruhelosigkeit, nie dagewesenen Schmetterlingen im Bauch. Heute ist ein Tag, an den sie sich ihr Leben lang erinnern wird. Heute kommt ihre Tochter in die Schule.
Smita selbst hat keine Schule je von innen gesehen. In Badlapur haben Leute wie sie dort nichts zu suchen. Smita ist eine Dalit.  Eine Unberührbare. Eine von denen, die Ghandi „Kinder Gottes“ nannte. Keiner Kaste zugehörig, im System nicht vorgesehen, jenseits von allem. Eine gesonderte Art Mensch, als zu unrein betrachtet, um mit anderen in Berührung zu kommen. Unwürdiger Abschaum, den man bedacht auf Distanz hält, wie man die Spreu vom Weizen trennt. Millionen leben wie Smita außerhalb der Städte, abseits der Gesellschaft, an der Peripherie der Menschlichkeit.“  

Die Autorin:

Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. „Der Zopf“ ist ihr erster Roman. Colombani lebt in Paris.
(Quelle: fischerverlage.de)

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