Romane

Susanne Abel: Stay away from Gretchen

Ich gehöre zu den Lesern, die, bevor sie ein Buch kaufen, zuerst den Klappentext und dann die erste Seite lesen. Danach hätte ich Susanne Abels Roman stehen lassen, weil mich Geschichten, in denen Journalisten zentrale Rollen spielen, noch nie begeistert haben. Liegt vielleicht daran, dass ich selbst seit über 20 Jahren journalistisch arbeite. Vermutlich findet ein echter Kriminalbeamter auch keinen rechten Gefallen an erdachten Kriminalgeschichten. Warum ich das Buch trotzdem mitgenommen habe? Ich finde den Titel toll. Ich mag es, wie Engländer und Amerikaner Gretchen sagen. Das klingt etwa so: Grättschen. Und mich hat der Klappentext gepackt. Und so bin ich auf eine ganz faszinierende Geschichte gestoßen. Die Geschichte von Greta Monderath, geborene Schönaich, Jahrgang 1931. Als Kind verehrt sie Adolf Hitler, als Backfisch flieht sie mit ihrer Mutter und den Großeltern aus Ostpreußen vor den anrückenden sowjetischen Soldaten. Sie überlebt Eiseskälte, Hunger, entgeht furchtbaren Greueltaten, die die Russen an den deutschen Frauen, den Frauen des Feindes, verüben, landet in einem elenden Flüchtlingslager und schafft es schließlich zu Verwandten nach Heidelberg. Genug Entbehrung, Elend, Angst und Grauen für mehr als ein Leben. Aber für Greta hält das Leben noch mehr Schicksalsschläge bereit. Sie verliebt sich in den afroamerikanischen GI  Robert Cooper, wird von ihm schwanger, wird Mutter einer unehelichen, dunkelhäutigen Tochter. Was das in Deutschland in den frühen fünfziger Jahren bedeutete, kann man sich heute nur noch schwer vorstellen. Ein doppeltes Stigma, das Frauen in Gretas Situation zu Geächteten machte, denen nahezu jede legale Möglichkeit verwehrt wurde, sich selbst und ihre Kinder irgendwie durchzubringen. Und so bringt Greta, so wie es unzählige ledige Mütter damals tatsächlich taten, ihre geliebte Kleine ins Kinderheim, nicht ahnend, dass ihr Baby in einem immer noch rassistischen Deutschland keine Zukunft hat. Ihr ganzes Leben lang, liegt der Verlust ihrer großen Liebe Robert und der Verlust ihres Mariele wie ein dunkler Schatten auf Gretas Seele. Erst als die Demenz ewiges Vergessen zu bringen droht, geht ihr Sohn, der Journalist und Nachrichtenmoderator Tom Monderath, dem Trauma seiner Mutter auf den Grund. Ein hochspannendes Thema, ein Stück wenig beachtete deutsche Nachkriegsgeschichte und eine klasse Story, die man nicht aus der Hand legen kann. Unbedingt lesen!         

Susanne Abel: Stay away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe. dtv, 2021, 20 Euro (Hardcover).

Blick ins Buch – die erste Seite:

„EINS.
Juli 2015

„In zwei Minuten sind wir live!“, ruft der Aufnahmeleiter durch das Nachrichtenstudio.
Die Kameramänner setzen ihre Kopfhörer auf.
„Wo ist Toms Cola? Und Sabine mit der Krawatte?“
Anchorman Tom Monderath nimmt hinter seinem Moderationspult Platz.
„Wir sind noch am Innenminister dran – eventuell haben wir eine Liveschalte, die du spontan anmoderierst. Ich geb’s dir dann aufs Ohr“, sagt die Regisseurin über den Studiolautsprecher.
Tom nickt, zieht am Strohhalm, schlürft die eiskalte Cola und probt murmelnd den Eröffnungstext: „Überall im Land werden Temperaturrekorde gemessen. Unwetter legten heute weite Teile von Deutschland lahm. Vor allem für ältere und kranke Menschen ist die Hitze eine Gefahr…“
„Die Eins etwas closer, die Zwei macht die übliche Fahrt“, gibt die Regie an die Kameramänner durch, und über die Studiolautsprecher ertönt: „Noch mal Maske bitte!“
„Noch eine Minute!“
„…nachdem gestern die höchsten Temperaturen des Jahres gemessen wurden, kam es heute in vielen Krankenhäusern…“
Sabine, Toms Assistentin, richtet mit ungewöhnlich fahrigen Händen seinen Krawattenknoten über dem Hemd.
„Was ist los?“, fragt er leise und deckt mit seiner Hand das Mikro ab.“

Über die Autorin:

Susanne Abel stammt aus einem badischen Dorf an der französischen Grenze, arbeitete bereits mit siebzehn Jahren als Erziehungshelferin und später als Erzieherin. Nach einer Ausbildung zur Puppenspielerin landete sie über den Weg des Theaters beim Fernsehen. Sie schloss ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin ab und realisiert seither als Autorin und Regisseurin zahlreiche Dokumentationen für Fernsehen. Die Autorin lebt und arbeitet in Köln.
(Quelle: Klappentext)

2 Gedanken zu „Susanne Abel: Stay away from Gretchen

  1. Ein toller Blog!!! Super geschriebene Empfehlungen! Die meisten der vorgestellten Bücher zählen ganz klar auch zu meinen Favoriten! Ein paar Bücher, die mich in diesem Jahr besonders beeindruckt haben: Goldie Goldbloom, Eine ganze Welt/ Juli Zeh, Über Menschen/ Rachel Joyce, Miss Bensons Reise/ Bernhardine Evaristo, Mädchen, Frau etc
    Liebe Grüße

    1. Lieben Dank für die freundliche Rückmeldung. Das gibt neue Motivation, nach längerer Blog-Pause wieder fleißig zu posten. Christine

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